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Psychosoziale Aspekte von Lernstörungen


Dieser Artikel soll die Vielschichtigkeit der Ursachen von Lernstörungen aufzeigen und dazu beitragen, vorschnelle und eindimensionale Erklärungen zu vermeiden.

Zunächst ein Fallbeispiel aus der täglichen Schulpraxis: Der Schüler S aus der vierten Klasse eines Gymnasiums erbringt in mehreren Unterrichtsfächern ungenügende Leistungen. Auffällig sind seine erhebliche Konzentrationsschwäche, die von verschiedenen Lehrern festgestellt wird und seine gelegentlich auftretenden Asthmaanfälle; ansonsten zeigt er ein durchaus angepasstes Verhalten.

Nehmen wir den nicht seltenen Fall an, dass der Lehrer L es unternimmt, nach den Ursachen für die Leistungsschwäche seines Schülers S zu fragen. Hinterfragen heißt ja, sich hinter die sichtbare Oberfläche zu wagen. Zu diesem Zweck intensiviert er die Beobachtung des Verhaltens seines Schülers und führt längere Gespräche mit ihm, seinen Mitschülern, seinen Eltern und auch den anderen Lehrerkollegen. Nehmen wir weiter an, dass der Lehrer L über jene psychologische Kompetenz verfügt, die es ihm ermöglicht einen zutreffenden, ganzheitlichen Befund aus seinen unterschiedlichen Recherchen zu ziehen.

Im Sinne des Prinzips der Multikausalität gelingt es dem Lehrer in unserem Beispiel sechs wichtige Faktoren, welche für die Lebenssituation des Schülers S relevant sind, aufzudecken:

(1) Der Vater

Zum Vater besteht ein ambivalentes emotionales Verhältnis, das zu andauernden Konflikten führt. Der Vater, ein Beamter von Beruf, projiziert in seinen Sohn seine eigenen hohen Leistungserwartungen, welche nicht erfüllt werden. Der Sohn erhofft von seinem Vater mehr Miteinander-Tun, welches nicht stattfindet. Die Situation verschärft sich. Am Ende steht ein fast völliger Kommunikationsverlust mit Enttäuschungen und Frustrationen auf beiden Seiten.

(2) Die Mutter

Von seiner Mutter erhofft sich Schüler S Verständnis, Hilfe und Schutz. Seine Mutter ist aber zu schwach, zu meinungsabhängig von ihrem autoritären Mann. Sie ist nicht in der Lage, ihren Sohn jene verständnisvolle Fürsorglichkeit zu geben, welche er in dieser kritischen Lebensphase nötig hätte. Außerdem ist sie ebenfalls berufstätig und mit Beruf und Haushalt überlastet.

(3) Der Bruder

Schüler S hat einen jüngeren Bruder, der in der Schule vorzügliche Leistungen erbringt. Dieser Bruder wird von den Eltern bevorzugt und als positives Vorbild hingestellt. Schüler S fühlt sich zurückgesetzt und benachteiligt. Er entwickelt eine Reihe von negativen Emotionen gegenüber seinem Bruder (Neid, Eifersucht, Hass).

(4) Die Interessen

Schüler S zeigt ein besonderes Interesse an biologischen Vorgängen, das von seinen Eltern nie gefördert wurde. Außerdem wollte er nach der zweiten Klasse Unterstufe nicht in jenen Klassentyp aufsteigen, wo Latein unterrichtet wird. Er wurde aber von seinen Eltern zu diesem gezwungen. So sieht er sich fast täglich mit einem Unterrichtsfach konfrontiert, das er nicht wählen wollte und das ihn nicht interessiert.

(5) Die Klasse

Schüler S fühlt sich im Ganzen unverstanden und zieht sich schrittweise zurück. Kompensatorisch kommt es in der Klasse zu gelegentlichen Akten von Aggression gegen seine Mitschüler. Er schlittert in eine Außenseiterposition und wird nicht richtig integriert. Auch diese Situation in der Klasse erweist sich für Schüler S in keiner Weise als emotional befriedigend. Die Kontaktdichte zu seinen Mitschülern nimmt ab.

(6) Psychosomatische Reaktionen

Die manchmal auftretenden Anfälle von Atemnot können mit Hilfe der beschriebenen emotionalen Situation, in der sich Schülers S befindet, erklärt werden. Die Lunge vermittelt den Stoffaustausch zwischen Außen und Innen; und die Sprache als wichtigstes Kontaktmittel wird durch Modulation des Luftstromes beim Ausatmen erzeugt. Das soziale Kommunikationsproblem und die psychische Belastung von Schüler S wirken einerseits auf das vegetative Nervensystem und andererseits auf das Immunsystem. Über diese Signalsysteme können sich gerade in dem betreffenden Fall Funktionsstörungen in der Lunge manifestieren: einerseits vegetativ übersteuerte Kontraktionen der glatten Bronchialmuskulatur und andererseits erhöhte Infektionsanfälligkeit infolge herabgesetzter Abwehrleistungen des Immunsystem (psychosomatisches bronchiales Asthma).

Auf diese verschiedenen Hintergrundfaktoren ist der bemühte und engagierte Lehrer L gestoßen. In weiteren Gesprächen mit dem Schüler S und vor allem mit dessen Eltern versucht er eine Verbesserung der emotionalen Situation des Schülers zu erreichen. Lehrer L erhofft sich dadurch eine Steigerung der Konzentrationsfähigkeit und der Lernleistung.


Das beschriebene Fallbeispiel sollte den mühsamen und zeitaufwendigen Weg einer multikausalen Befunderhebung in psychosozialen Fragestellungen aufzeigen. Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten sind sehr oft nur verstehbar (und vielleicht auch behebbar) aus dem vielschichtigen Netzwerk psychosozialer Beziehungen, in dem das Kind eingebettet ist. Erst auf dieser multifaktoriellen Grundlage kann ein ganzheitlicher Befund (und vielleicht ein Therapieplan) gewagt werden.

Aber der Zeitgeist läuft anders: eine Rückkehr zu simplen Antworten auf komplexe Probleme ist in Pädagogik und Psychologie zu beobachten. Den sogenannten alternativen esoterischen Methoden gemeinsam ist die Zentrierung des Krankheitsgeschehens auf den individuellen Patienten, in unserem Falle auf das Kind. Es werden eindimensionale, grob vereinfachende und stereotyp wieder kehrende Universalerklärungen angeboten und verbreitet. Außer Acht gelassen wird dabei die systemische, mehrdimensionale Sichtweise psychosozialer Problemstellungen.

Die meisten Lernstörungen erweisen sich, so wie das obige Beispiel, als Signale einer gestörten Grundbeziehung zwischen Kind und seiner gesellschaftlichen Situation. Eine Therapie, die nur aus einfachen Körperübungen, aus der Verabreichung von Bach-Blüten oder geschüttelten Kräuteressenzen besteht, mag vielleicht im Augenblick helfen (Placebo-Effekt), mag vielleicht kurzfristig die emotionale Befindlichkeit und das kognitive Leistungsvermögen verbessern (jede echte Zuwendung ist förderlich), löst aber auf Dauer die Grundproblematik nicht.

Wird beispielsweise bei einem Kind eine umgrenzte Teilleistungsschwäche vermutet, so sollte ein entsprechender geeichter psychologischer Test (z.B. das adaptive Intelligenz-Diagnostikum von Kubinger & Wurst, Wien 1991) durchgeführt werden. Nach der sorgfältigen Befunderhebung kann dann einerseits ein individuelles lernpsychologisches Übungsprogramm erstellt werden; andererseits sollte aber auch die jeweilige psychosoziale Situation des Kindes miteinbezogen, d.h. eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern gesucht werden. Bei schwereren Fällen von Lernstörungen sind die Schule und der Lehrer mit Sicherheit überfordert. Dafür stehen entsprechende Einrichtungen des schulpsychologischen Dienstes zur Verfügung.

In der Psychologie werden heute zur Erklärung der Entstehung von psychischen Störungen mindestens vier verschiedene Ebenen herangezogen:

(1) die Körperebene (physische Eigenschaften und Prozesse)
(2) die psychologische Ebene (psychische Eigenschaften und Prozesse)
(3) die soziale Mikroebene (soziale Beziehungen und psychosoziale Einflüsse)
(4) die soziale Makroebene (politische und ökonomische Verhältnisse)

Eine Störung ist zumeist das Resultat der Auswirkung von mehreren Ursachen auf verschiedenen Ebenen. Diese führen zu einer erhöhten körperlich-seelischen Verletzlichkeit (Vulnerabilität) gegenüber sozialen Anforderungen und Belastungen (Stress). Dieses Vulnerabilitäts-Stress-Modell ist heute eine allgemein akzeptierte Arbeitshypothese der Psychotherapie. Die praktische Therapiearbeit, gleichgültig in welcher der drei anerkannten Richtungen sie erfolgt (psychoanalytisch, verhaltenstherapeutisch oder soziosystemisch), ist in jedem Fall eine sehr zeit- und arbeitsaufwendige Beschäftigung, die viel Geduld, Einfühlung und psychologische Kompetenz einfordert - auf keinen Fall ist sie ein einfaches und schnelles Geschäft !
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