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Gedanken zum Mathematikunterricht


Nach mehreren Dienstjahren im Schulunterricht und vielen damit verbundenen erfreulichen, aber auch weniger erfreulichen Erfahrungen stellt sich jeder Lehrer früher oder später die Sinnfrage seines Tuns. So auch bei mir im Gegenstand Mathematik. Was kann ich als Lehrer mit meinem Mathematikunterricht bei den Kindern in der Unterstufe erreichen ? Wofür ist Mathematik-Lernen gut ? Auf diese Fragen sind in der modernen Lernforschung natürlich bereits viele mehr oder minder wissenschaftliche Antworten gegeben worden. Ich möchte daher an dieser Stelle keine abstrakte Theorie entwickeln, sondern an Hand zweier Unterrichtsbeispiele einige mir wichtig erscheinende Gedanken darlegen.


Erstes Beispiel: Die Ähnlichkeit von Figuren


In einem stark gekürzten Dialog in der dritten Klasse soll der Begriff der Ähnlichkeit von Figuren (Vielecke in der Ebene) erklärt werden.

LEHRER:     Wann sind zwei Figuren ähnlich ?
SCHÜLER A:  Wenn sie die gleiche Form haben.
LEHRER:     Was meinst Du damit ?
SCHÜLER A:  Na ja, wenn sie gleich ausschauen.
LEHRER:     Wovon hängt das ab ?
SCHÜLER B:  Von den Seitenlängen.

Der Lehrer zeichnet zwei Vierecke mit gleich langen Seiten, ein Quadrat und eine Raute.

LEHRER:     Hängt Ähnlichkeit wirklich nur von den Seiten ab?
SCHÜLER B:  Auch die Winkel sind wichtig.
SCHÜLER A:  Die Ähnlichkeit hängt von Seiten und Winkeln ab.

Der Lehrer zeichnet zwei gleichseitige Dreiecke, ein kleines und ein großes.

LEHRER:     Sind die beiden Figuren ähnlich ?
SCHÜLER A:  Eigentlich schon.
LEHRER:     Aber die Seitenlängen stimmen doch nicht überein.
SCHÜLER B:  Die Ähnlichkeit hängt nicht von den Seitenlängen ab,
            sondern nur von den Winkeln.

Der Lehrer zeichnet drei Figuren, ein Quadrat und zwei ähnliche Rechtecke, ein kleines und ein großes.

LEHRER:     Welche Figuren sind hier ähnlich ?
SCHÜLER B:  Die beiden Rechtecke.
LEHRER:     Aber alle drei Figuren stimmen doch in ihren
            Winkeln überein. Was ist mit dem Quadrat ?
SCHÜLER A:  Die Form hängt also nicht nur von den Winkeln ab.
SCHÜLER B:  Jetzt weiß ich es -
            es kommt auch auf das Verhältnis der Seiten an.
LEHRER:     Bravo, wann sind also zwei Figuren ähnlich ?
SCHÜLER B:  Wenn ihre Form gleich ist.
LEHRER:     Kannst Du das jetzt genauer erklären ?
SCHÜLER B:  Wenn sie in den Winkeln und den Seitenverhältnissen
            übereinstimmen.
LEHRER:     Wo sind dann bei ähnlichen Figuren die Unterschiede ?
SCHÜLER A:  In den Seitenlängen.
SCHÜLER B:  Und in ihren Flächen.
LEHRER:     Können ähnliche Figuren zur Deckung gebracht werden ?
SCHÜLER A:  Nein.

LEHRER:     Wie kann man aus einer Figur eine deckungsgleiche
            Figur erzeugen?
SCHÜLER A:  Durch eine Parallelverschiebung.
LEHRER:     Durch welche Abbildungsverfahren noch ?
SCHÜLER B:  Durch eine Drehung und durch eine Spiegelung.
LEHRER:     Welches Problem stellt sich bei ähnlichen Figuren ?
SCHÜLER A:  Wie kann man ähnliche Figuren erzeugen.
LEHRER:     Was meinst Du damit ?
SCHÜLER A:  Wie kann man eine Figur vergrößern oder verkleinern.
LEHRER:     Was sollte dabei unverändert bleiben ?
SCHÜLER B:  Die Winkel und die Seitenverhältnisse.
LEHRER:     So ein Verfahren nennt man Ähnlichkeits-Abbildung.
            Wir werden uns nun mit der Konstruktion von solchen
            Abbildungen und deren Anwendungen beschäftigen.

Zweites Beispiel: Das Volumen einer Kugel


In der vierten Klasse soll das Volumen einer Kugel berechnet werden. Im Lehrbuch ist hierfür nur die Formel angegeben - ein Beweis fehlt. Im folgenden soll gezeigt werden, wie mit einfachen Mitteln ein solcher Beweis entwickelt werden kann. Drei Voraussetzungen sind dafür nötig. Erstens, das Prinzip von Cavalieri: Zwei Körper haben dann gleiche Volumina, wenn sie auf der gleichen Basisebene stehen und jeder dazu parallele, ebene Schnitt zwei flächengleiche Schnittfiguren erzeugt. Zweitens, der Lehrsatz von Pythagoras und drittens, die Volumsformeln von Zylinder und Kegel.

Der erste Lehrsatz kann anschaulich durch einfache Überlegungen plausibel gemacht werden. Sein Verständnis stößt im allgemeinen auf keinerlei Schwierigkeiten: Beispielsweise errichtet man zuerst aus zehn Bierblättern einen geraden Quader und danach ein schiefes Prisma, indem man die Bierblätter jeweils um ein kleines Stück seitlich verschiebt. Offensichtlich gilt das Prinzip von Cavalieri, und beide Körper haben das gleiche Volumen. Die beiden anderen Lehrsätze wurden im Unterricht bereits früher bewiesen.

Die Herleitung der Volumsformel der Kugel kann dann in drei Schritten erfolgen.

Schritt 1: Zunächst wird eine Halbkugel mit dem Radius R dargestellt und daneben ein Zylinder mit dem Radius R und der Höhe R. Aus dem Zylinder wird von oben ein Kegel mit dem Radius R und der Höhe R herausgebohrt, so dass die Kegelspitze im Basismittelpunkt des Zylinders liegt. Dadurch entsteht ein Restkörper.

Schritt 2: Mit Hilfe des Lehrsatzes von Pythagoras wird jetzt nachgewiesen, dass das Prinzip von Cavalieri gilt: Die Schnittfigur der Halbkugel in einer bestimmten Höhe parallel zur Basis ist ein Kreis. Die Schnittfigur des Restkörpers in einer bestimmten Höhe parallel zur Basis ist ein Kreisring. Es ist leicht zu zeigen, dass diese beiden Schnittfiguren flächengleich sind. Also besitzen der Restkörper und die Halbkugel das gleiche Volumen.

Schritt 3: Damit ist die Berechnung des Kugelvolumens auf die Berechnung der Volumina von Zylinder und Kegel zurückgeführt. Die entsprechende Formel kann nun mittels einfacher algebraischer Umformungen entwickelt werden.

Die beiden Unterrichtsbeispiele aus der Unterstufe sollen deutlich machen, worin meines Erachtens die wichtigen Ziele der Unterrichtung in Mathematik liegen. Diese will ich abschließend in fünf Thesen formulieren.


Mathematik soll Denkhaltungen bilden

Vorrangiges Ziel des Mathematikunterrichtes ist das Erlernen eines effektiven Problemlöseverhaltens:

Kreatives Denken: Entwicklung origineller, phantasievoller Lösungswege.
Analytisches Denken: Zerlegung der Arbeit in Bausteine.
Systematisches Denken: Schrittweise Entwicklung der Lösung.
Induktives Denken: Analysieren und Erkennen von Regelhaftigkeiten.
Deduktives Denken: Was man behauptet, soll man auch beweisen können.
Kritisches Denken: Oftmaliges Hinterfragen der Gültigkeit verwendeter Verfahren.
Genaues Sprechen: Exakte sprachliche Formulierung von Problem und Lösung.

Das Auswendiglernen von Formeln und Rezepten zum stereotypen Durchrechnen von Übungsbeispielen erscheint mir weniger wichtig.


Mathematik soll Meditation sein

Im Zeitalter multimedialer Hirnzersplitterung (insbesonders durch Computer und Fernsehen) halte ich es für sehr wichtig, dass beim Lösen einer gestellten Aufgabe der Schüler nur mit sich selbst kämpft. Natürlich werden dabei auch einige Hilfestellungen von außen notwendig sein. Die konzentrierte Auseinandersetzung mit dem Problem soll jedoch allein erfolgen - in Einzelarbeit und nicht in geschwätziger Gruppenarbeit (wenn, dann höchstens zu zweit mit dem jeweiligen Nachbarn).


Mathematik soll Abenteuer sein

Der Lehrer muß motivieren. Die entsprechend einfache, anschauliche und spannende Darbietung einer mathematischen Aufgabe soll beim Schüler Problembewußtsein, Neugierde und Erwartungsspannung auslösen. Der Lehrer als Animateur des Intellekts. Die wahren Abenteuer sind im Kopf und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo.


Mathematik soll Spass machen

Sowohl dem Schüler als auch dem Lehrer soll ein so verstandener Mathematikunterricht Spass machen. Dem einsamen Kampf mit dem Problem soll eine umso lebhaftere Diskussion über die versuchten Lösungswege folgen. Die Schüler besprechen die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Meinungen und lernen so scharfsinnig zu argumentieren. Erfolgversprechende Vorschläge sollen vom Lehrer hinterfragt und entsprechend gewürdigt werden - weniger erfolgreiche Schüler zu weiteren Denkbemühungen ermutigt werden.


Mathematik soll nicht weltfremd sein

Grau ist alle Theorie. Der unverzichtbare Ausgangspunkt des Mathematikunterrichtes sollte zunächst immer die erfahrbare Lebenswirklichkeit der Schüler sein. Die Mathematik entwickelt sodann für die verschiedenen Sachgebiete formale Modelle. Dadurch werden Teilbereiche der Welt quantifizierbar und berechenbar. So sind die Grundlagen für unsere moderne Technik geschaffen worden.

Ich hoffe, dass dieser Artikel das Vorurteil über die Mathematik, ein trockenes und unverständliches Unterrichtsfach zu sein, weitgehend ausgeräumt hat. Wenn eine Schülerin am Ende der zweiten Klasse sagt, dass sie sehr wohl wisse, keine gute Mathematikerin zu sein, aber sich trotzdem auf die tägliche Mathematikstunde gefreut habe, dann kann doch Mathematik nicht allzu langweilig gewesen sein !
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